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Episode

Sarah Winkelmann // Expedition und Abenteuer

Die Extremwanderin

Sarah Winkelmann ist 28 Jahre alt und pflegt ein extremes Hobby: Expeditionen in der Arktis. Zusammen mit zehn anderen Teilnehmern durchquerte sie in 28 Tagen die Eiswüste Grönlands. Jeden Tag führte sie Tagebuch. Das Schreiben half ihr, bei Verstand zu bleiben, wenn es darum ging, ihre Grenzen zu überwinden.

Sie haben die Eiswüste Grönlands durchquert. Was haben Sie in Ihr Notizbuch geschrieben?

Zunächst praktische, eher technische Dinge: Wie war das Wetter, woher kam der Wind? Habe ich Medikamente eingenommen? Ist das Equipment in Ordnung? Ist das Zelt okay? Ich habe jeden Tag Fakten und To-dos festgehalten. 


Wie wichtig waren diese Notizen?

Sie helfen, den Kopf frei zu haben. Auf einer Expedition ein nicht zu unterschätzender psychologischer Effekt. Am Anfang kamen mir oft Zweifel: Was, wenn ich mich verrechnet habe mit meinen Essensrationen? Wenn auf einmal das Wetter umschwingt? In diesen Situationen hat mir das Aufschreiben Sicherheit gegeben. Ich vergleiche das gerne mit dem »Denkarium« aus Harry Potter, eine Steinschale, in der Gedanken und Erinnerungen abgespeichert und abgerufen werden können. Mein »Denkarium« ist mein Notizbuch.

Gab es Momente, die Ihnen Angst bereiteten?

Man kann sich noch so gut vorbereiten, trainieren, die Route planen, das Equipment organisieren, sich auf Wetterumschwünge vorbereiten – am Ende ist man auf sich selbst gestellt, steht in der Eiswüste auf seinen Skiern und erlebt alles zum ersten Mal. Es gibt Dinge, die kann man beim Training nicht simulieren: Ich wusste, dass der Hunger sich auf einer solchen Expedition nach zwei bis drei Wochen fast verdoppelt. Wie reagiert der eigene Körper da? Diese Ungewissheit macht Angst.

Wie sind Sie mit dieser Angst umgegangen?

Ich habe sie aufgeschrieben, aber immer kombiniert mit etwas, das mir Mut machte. Nach ein paar Tagen hatte ich dafür ein System entwickelt: Ich habe jeden Tag meine drei größten Ängste notiert, und direkt dahinter drei Dinge, auf die ich mich am meisten freue, wenn ich wieder zurück bin. Das war oft etwas ganz Banales, Erdbeeren, Pizza oder Spargel zum Beispiel. Meine täglichen Notizen wurden also immer länger.

Wann hat man auf einer solchen Expedition denn Zeit, um zu schreiben?

Die Tage sind sehr durchgetaktet, viel Zeit bleibt nicht. Ich habe mir den Wecker etwas früher gestellt und dann morgens gleich nach dem Aufwachen ungefähr 20 Minuten lang geschrieben, als ich noch in meinem Schlafsack lag. Immer nach dem gleichen Prinzip: Erst die Fakten und technischen Dinge, dann einen Abschnitt darüber, was wir als Gruppe zusammen erlebt haben und zuletzt die Passagen über meine Gefühle.

Es gibt Momente, in denen ein Stift und ein Blatt Papier dabei helfen, bei Verstand zu bleiben.“

Sie hätten doch auch ein digitales Tagebuch führen können, oder?

Stift und Papier sind extrem zuverlässig. Theoretisch gehen auch digitale Geräte, aber bei den starken Minusgraden machen die Akkus schnell schlapp.



Haben das alle in Ihrer Gruppe so gemacht?

Manche nahmen Sprachmemos mit ihren Handys auf – für mich kam das nicht infrage. Ich bin mit Stift und Papier großgeworden, habe als Kind Geschichten für meine Geschwister geschrieben, mich im Studium handschriftlich auf Klausuren vorbereitet. Für mich bedeutet das Schreiben mit der Hand vor allem Intimität. Ich bin ehrlicher zu mir selbst, wenn ich mit der Hand schreibe.

Braucht man in der extremen Kälte einen besonderen Stift?

In meinem Schlafsack im Zelt hätte wohl ein normaler Kugelschreiber noch funktioniert, aber ich habe mir angewöhnt, auf dem Rücken liegend über Kopf zu schreiben; und dann läuft die Tinte in die falsche Richtung. Das zuverlässigste Schreibgerät ist für mich daher der Bleistift.

Was passiert heute, wenn Sie Ihre Aufzeichnungen lesen?

Ich bin fast ein bisschen stolz. Weil ich in der Rückschau erkenne, wie ich mich während der Expedition entwickelt habe. Das gilt vor allem für meine Ängste. Anfangs betrafen sie vor allem mich selbst, Zweifel an meinen Fähigkeiten: Schaffe ich das? Habe ich genug trainiert? Immer wieder das Nachdenken über die Essensrationen, einer der wichtigsten und komplexesten Aspekte der Planung. Später waren es fast nur noch externe Faktoren, die mir Sorgen machten. Hält das Wetter? Werden wir auf Eisbären treffen? Ich kann in meinen Aufzeichnungen nachlesen, wie ich immer selbstsicherer wurde.

Wenn ich mit der Hand schreibe, bin ich ehrlicher zu mir selbst.“

Fördert die körperliche und psychische Grenzerfahrung besonders existenzielle Gedanken zutage?

Teilweise sogar im Gegenteil. »Heute haben wir alle zusammen in einem Dreimannzelt gesessen, Waffeln gegessen und geschnackt«, lautet zum Beispiel ein Eintrag. Klingt nicht weltbewegend, aber für mich war es damals unheimlich wichtig, diese Momente der Gemeinschaft zu erleben. Man ist auf einer Expedition zwar in einer Gruppe, aber meist mit sich allein. Es geht 30 Tage lang geradeaus durch eine weiße, fast immergleiche Landschaft. Keine Tiere, kaum Abwechslung, da spielt sich das meiste im eigenen Kopf ab. 

Das klingt fast wie auf See oder in der Wüste.

Die unvergleichliche Stille und Weite der Landschaft Grönlands, das Abgeschnittensein von der Welt, sind in erster Linie sehr inspirierend. Man findet Zeit, intensiv über das eigene Leben nachzudenken, über Ziele, Wünsche, Beziehungen. Und im besten Fall findet man Lösungen für Probleme, kann sie morgens im Schlafsack zusammen mit den Wetterdaten in einem Notizbuch festhalten.

Haben Sie je ans Aufgeben gedacht?

Ernsthaft aufgeben wollte ich nie, aber es gab eine Situation, die war hart an der Grenze. Gegen Mitte der Expedition bekam ich plötzlich Knieschmerzen, die immer schlimmer wurden. Die Schmerzen waren das eine, schwieriger war die Ungewissheit: Was, wenn Du Dir jetzt ernsthafte Schäden zuziehst? Es war ja kein Krankenhaus in der Nähe. Irgendwann erreichten wir per Satellitentelefon einen Arzt, der per Ferndiagnose Entwarnung gab. Bis zu dem Moment hatte ich meine quälenden Gedanken in meinem Notizbuch festgehalten. Es gibt Momente, in denen ein Stift und ein Blatt Papier dabei helfen, bei Verstand zu bleiben.

Sarah Winkelmann

Sarah Winkelmann studierte International Relations und Politikwissenschaften an der Constructor University in Bremen und der Cambridge University. Sie lebt und arbeitet als Strategieberaterin in Bergen an der Südwestküste Norwegens. Mit 25 Jahren stand sie zum ersten Mal auf Langlaufskiern, mit 27 war sie die jüngste Deutsche, die die Grönlanddurchquerung meisterte. Ihre nächste Expedition vom Beginn des antarktischen Kontinents bis zum Südpol ist schon in Planung. 



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Autor Tilman Mühlenberg

Tilman Mühlenberg ist Autor, Übersetzer und Musiker. Er schreibt hauptsächlich über Kunst und Musik für Galerien, Verlage und Labels. Er hat als Musiker und Produzent diverse Tonträger herausgebracht. Mühlenberg lebt in Berlin-Köpenick.